Prolog


Als ich erwachte, war ich sogleich hellwach. Ich wusste, wie ich hieß – John Nowak -, wann ich in das Raumschiff geklettert war – vor 41 Jahren – und dass ich zuvor etwas anderes gewesen war, nämlich ein Mensch. Jetzt war ich eine Bewusstseinssimulation auf sechs Beinen, ausgestattet mit einem beeindruckenden Arsenal an Sensoren und Werkzeugen, und wenn es sein musste, konnte ich sogar ein Stück weit fliegen – ein durchaus zweifelhafter Ersatz für einen Körper mit Armen und Beinen, der zwar anfällig gewesen war für Schmerzen, aber doch auch empfänglich für ein ganzes Spektrum an sinnlichen Erfahrungen und Lustgefühlen, die mir in diesem Moment quasi als Gottesgeschenk erschienen, als eine Gnade, die mir entzogen worden war.
Aktenkoffer hatten wir unsere neue Erscheinungsform damals im Scherz genannt, und seltsamerweise fühlte ich mich auch so. Das flache, hochkant stehende Gehäuse mit seinem elektronisch-bionischen Inhalt war mein Körper und mehr als das: Es war John Nowak, es war ich. Das bedeutete, es hatte funktioniert. Ich war nicht verrückt geworden im einundvierzigjährigen Nirwana, hatte während des interstellaren Fluges der entropischen Paralyse getrotzt, und wenn ich wach war, bedeutete dies auch, dass die dreiundzwanzigste Expedition erfolgreich verlaufen war – dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Auf einmal verspürte ich den drängenden Wunsch, es mit eigenen Augen zu sehen, auch wenn dies jetzt optische Sensoren waren, Hochleistungsinstrumente, die mein Sehvermögen weit in den UV- und den IR-Bereich hinein erweiterten. Ich machte Anstalten, die Kabelverbindungen zum Schiff zu kappen und die Arretierung zu lösen, die verhindert hatte, dass ich durch die Beschleunigungskräfte zu Beginn und zum Ende des Fluges an der Wand zerschmettert wurde.
„Stopp!“, ertönte eine Stimme in meinem Kopf. „Erst bitte Meldung erstatten.“ Es war Cyrus Burdecki, der Captain, und ich erkannte ihn sofort. Und ich sah ihn auch, schräg gegenüber an der Wand, in eine gepolsterte Mulde eingepasst, von Klammern umschlossen und mit mehreren stahlglänzenden Kabeln mit dem Schiff verbunden, ein Aktenkoffer wie ich.
„John“, sagte ich. „Sieht so aus, als wäre ich voll einsatzfähig.“
„Chen Fengdao meldet sich dienstbereit“, sagte der dritte Aktenkoffer.
„Simone Hermes ebenfalls“, säuselte der vierte.
„Reina.“ Kurz angebunden, wie immer; offenbar nahm sie es Cyrus nach einundvierzig Jahren noch immer übel, dass trotz ihrer besseren Qualifikation er Captain geworden war und nicht sie. Den Ausschlag gegeben hatte die Beurteilung der Psychologen, Reinas Ansicht nach Vertreter einer Pseudowissenschaft, die ihre Bauchentscheidungen mit geschicktem Geschwafel verbrämten. Was die Psychologen wohl zu ihrer derzeitigen Geistesverfassung zu sagen hätten?
„Darf ich mich jetzt losmachen?“, fragte ich.
„Noch nicht“, erwiderte Cyrus, der Captain. „Erst der Test.“
Es handelte sich um Testfragen, eine psychologische Ergänzung der Funktionsprüfung, die bereits von Mother, der Bord-KI, über die Kabelverbindung durchgeführt worden war. Ich konnte nicht genau sagen, wie die Fragen übermittelt wurden. Ich meinte sie schriftlich ausformuliert vor mir zu sehen während ich sie gleichzeitig hörte. Vermutlich waren das Phantomeindrücke, bedingt durch meine bionisch-elektronische Maschinenexistenz.
Wie lautet dein Name?
Schildere kurz deine früheste Erinnerung.
Was empfindest du, wenn du an deine Mutter denkst?
Was ist die dritte Wurzel aus 4913?
Gibt es Fische mit Beinen?
Beschreibe deine Gefühlslage.
Was ist deine Lieblingsfarbe?
Was ist die letzte Erinnerung, die du mit der Erde verbindest?
Und so weiter, und so fort, insgesamt zweihundertfünfzig Fragen lang. Die Antworten dachte ich, doch ich wusste, dass sie gleichzeitig in digitaler Form an Mother weitergleitet wurden. Als alle fertig waren, herrschte einen Moment lang Stille, während Cyrus auf das Auswertungsergebnis wartete. Offenbar fiel es positiv aus.
„Okay“, sagte Cyrus. „Die Formalitäten hätten wir damit abgehakt. Willkommen in unserem neuen Leben, Leute, und willkommen im Orbit von Imago. Das Abenteuer beginnt.“ Er selbst löste sich als Erster aus seiner Reisemulde, fuhr einen Arm aus, beförderte sich mit einem präzise bemessenen Stoß vor das Aussichtsfenster und fing sich an einem der Haltegriffe ab. Reina erreichte das Fenster als zweite, und ich verpasste mir ein wenig Zusatzschub, um es als dritter zu erreichen. In jeder Gruppe gab es eine Hierarchie, und manchmal bildete sie sich sehr früh heraus, meist anhand kaum wahrnehmbarer Kleinigkeiten. Da konnte es nicht schaden, wenn ich meinen Platz frühzeitig markierte.
Kurz darauf drängten sich alle fünf Aktenkoffer vor dem Fenster, was nicht ganz einfach war, da sie, warum auch immer, vor Berührungen zurückscheuten.
Imago, der zweite Planet des Zielsystems, nahm das ganze Sichtfeld ein: weiße Wolkenfelder, eine gelb-braun-grüne Landmasse, am Rand blaues Meer.
„Auch von mir ein herzliches Willkommen“, meldete sich Mother. Ihre sanfte Stimme füllte meinen Kopf aus; sie klang ein wenig gekränkt, weil bislang keiner sie angesprochen hatte. Weil sie glaubte, wir hielten uns für was Besseres, dachte ich. Weil wir in einem Winkel unseres bionischen Pseudogehirns noch immer überzeugt sind, wir wären Menschen und keine Maschinen. Trotz meines vagen Schuldgefühls verzichtete ich auf eine Entschuldigung.
„Hallo, Mother“, sagte ich.
„Schön, dass du da bist“, sagte Simone.
„Alle klar bei dir?“, fragte Cyrus.
„Danke, bei mir ist alles klar“, antwortete Mother. „Inzwischen liegen eine ganze Reihe von Daten zu Imago vor. Soll ich sie vorlesen?“
„Aber fass dich kurz“, sagt Cyrus.
„Radius siebentausendfünfhundertzweiundvierzig Kilometer, Gravitation zehn Komma zwei-sechs Meter pro Sekunde, Luftzusammensetzung: Stickstoff zweiundneunzig Komma drei Prozent, Sauerstoff sechs Komma zwei, Argon null Komma sechs …“
Während Mother zu den Spurengasen überging, schaute John; alle schauten.
„Volltreffer“, sagte Fengdao. „Oder?“
„Fast wie die Erde …“, murmelte Reina.
„Und auch wieder nicht“, sagte Simone. „Irgendwie gruselig, finde ich.“ Alle drei hatten recht; Imago war anscheinend tatsächlich das Ebenbild der Erde, doch die Konturen des Kontinents, der Verlauf der Flüsse und die Verteilung der Farben lösten bei mir kein Wiederkennen und keine vertrauten Assoziationen aus, sondern ein Befremden, beinahe einen Anflug von Grauen – als hätte sich etwas verschoben, das jeden Moment ins Gewohnte zurückschnappen konnte. Doch das würde es nicht tun, das war sicher, und dass es der Erde so ähnlich war, machte mir umso deutlicher bewusst, dass wir unsere Heimat niemals wiedersehen würden.
„Irgendwelche Besonderheiten?“, fragte Cyrus. „Elektromagnetische Emissionen?“
„Ein Breitbandrauschen im Bereich von dreihundert Kilohertz bis zweihundert Gigahertz. Im Schiff wird es durch den Faraday-Effekt abgeschirmt, aber draußen dürfte es unter anderem den Funkverkehr stören.“
„Natürlichen Ursprungs?“
„Eher wohl nicht.“
„Oha“, sagte Cyrus. In diesem Moment ging ein schwacher Ruck durchs Schiff. Ich nahm das Äquivalent eines allgemeinen Zusammenzuckens wahr – eines der empathischen Phänomene, so hatte man uns erklärt, die auf der engen Vernetzung beruhten, sich mit der Zeit aber abbauen würden.
„Der Müll wurde ausgestoßen“, sagte Fengdao.
„Ich wusste gar nicht, dass wir überhaupt Abfälle produzieren“, sagte Simone. „Man sollte eigentlich meinen …“
„Wir nicht“, sagte Reina. „Aber das Schiff.“
Wir hatten die Anspannung überspielt, doch uns allen war bewusst, was Mothers so harmlos klingende Bemerkung bedeuten konnte.
„Gibt es Anzeichen von … Zivilisation?“, fragte Cyrus.
„Bisher habe ich keine gefunden“, antwortete Mother. „Keine Gebäude, keine regelmäßigen Strukturen, keine Flugobjekte in der Luft.“
„Fauna?“
„Noch nichts.“
„Flora?“
„Keine Bäume, kein Gras. Aber es gibt bräunliche Strukturen von bis zu hundert Metern Durchmesser und drei Metern Dicke.“
„Pflanzen? Pilze?“
„Das lässt sich noch nicht sagen. Die Oberfläche weist farbige Streifen auf.“
„Mineralische Ablagerungen vielleicht?“, sagte Simone.
Mother legte eine Teleskopaufnahme auf einen Teil des Fensters. Zu sehen war eine Art Polster, das an gewisse Baumpilze erinnerte. Es waberte leicht aufgrund der Luftströmungen, doch die Streifen, bräunlich, blau und grau, waren deutlich zu erkennen.
„Merkwürdig“, murmelte ich. „Pilze sind das wohl eher nicht.“
„Einige dieser Strukturen sind auch im Meer zu erkennen, in Ufernähe.“ Mother legte ein weiteres Bild aufs Fenster.
„Wir sollten die Sonden losschicken“, schlug Reina vor.
„Noch nicht“, sagte Cyrus. „Wir sammeln erst mal weiter Distanzdaten. Das elektromagnetische Feld bereitet mir Sorgen. Was ist, wenn der Funkkontakt abbricht, und wir verlieren die Sonden?“
Erneut ging ein Ruck durchs Schiff, etwas stärker als beim ersten Mal.
„Noch ein Containerausstoß?“, sagte Simone. „Ich dachte, der Müll wäre schon weg.“
„Das war ich nicht“, sagte Mother. „Etwas ist von außen gegen das Schiff gestoßen.“
„Etwas?“, sagte Cyrus alarmiert. „Wurden wir von einem Meteoriten getroffen?“
„Das glaube ich nicht.“
„Geht es vielleicht etwas präziser? Mother?“
„Mir liegen leider keine Daten vor.“
„Verdammt noch mal.“ Cyrus löste sich vom Fenster und schwebte Richtung Luke. „Ich gehe raus und sehe mir das an.“
„Ich komme mit“, sagte ich.
„Macht das nicht“, sagte Simone. „Bitte.“
„Ich würde ebenfalls davon abraten“, meldete sich Fengdao zu Wort, der am Fenster ausgeharrt hatte. „Das Schiff dreht sich.“ Unwillkürlich suchten alle nach Halt. Cyrus, der vor der Luke schwebte, wurde seitlich abgetrieben und prallte gegen die gepolsterte Wand. Der fingergroße, sandfarbene Teddy, mein persönliches Andenken an meine Existenz als stoffwechselnder Mensch, trudelte durch den Raum. Vermittelt durch irgendeinen Sensor, nahm ich eine leichte Beschleunigung wahr. Im Fenster wanderte Imago seitlich aus und machte tiefer Schwärze Platz. Ein Knirschen war zu hören, wie von Metall, das an Metall reibt.
„Meldung, Mother!“, rief Cyrus.
„Ich sehe nichts“, sagte Mother. „Tut mir leid, Cyrus.“
„Das Schwarz“, sagte Fengdao.
„Was ist damit?“, fragte John.
„Das ist nicht das All.“
„Nicht das All? Mann, kannst du dich nicht …“
„Ich glaube, wir werden verschluckt.“
„Aaah!“, machte Simone und fuchtelte hilflos mit einem Greifer, als wehrte sie eine Mücke ab.
„Ein Stealthobjekt“, sagte ich so sachlich, als wertete ich eine Videoaufnahme aus.
„Antrieb starten!“, rief Cyrus. „Mother, zünde den Antrieb!“
Der Alarm schrillte.


78 Jahre später

Zuerst hörte ich.
Ein Summen und Knistern.
Ein Knacken. Ein Sirren.
Ein Geräusch nach dem anderen.
Zeit.
Mir fiel ein, wer ich war – John Nowak, Teilnehmer der interstellaren Expedition 23, zuständig für … für irgendwas. Ich war ein Bewusstseinsklon und lebte in einem Aktenkoffer, oder vielmehr, ich war ein Aktenkoffer, und das letzte, woran ich mich erinnerte, war der Anblick des Zielplaneten. Imago hieß der Planet, auch das fiel mir wieder ein.
Die Gedanken folgten aufeinander wie die Geräusche, mehr oder minder klar voneinander abgetrennt. Ich dachte langsam. Ich fühlte mich benommen.
Ein Zischen, wie wenn ein Druckausgleich erfolgt. Luft?
Ich schlug die Augen auf und sah … einen hochgeklappten Deckel und einen Teil eines Raums mit weißen Wänden. In den Aussparungen der Polsterung waren Leitungen und Kabel verlegt. Ich befand mich in … nein, nicht in einer Mulde, sondern in einem Gehäuse. Schläuche schlängelten sich wie bunte Würmer in schwarze Löcher hinein und verschwanden darin. Dick gepolsterten Halterungen lösten sich von mir. Ich schwebte am Deckel vorbei und drehte mich langsam in der Luft. Ich sah ein Fenster. Ein Planet mit Atmosphäre nahm fast das ganze Sichtfeld ein: weiße Wolkenfelder, eine gelb-rote Landmasse. Ein grünes Delta und eine blaue Wasserfläche, geformt wie eine dicke Schnecke mit zwei Fühlern. Langsam drehte sich der Planetenausschnitt unter mir weg. Das musste Imago sein, der Zielplanet, doch die Schneckenfühler und das Delta weckten Erinnerungen an einen ganz anderen Planeten, an Rotes Meer, Suezkanal und den Golf von Akaba.
Langsam trieb ich in der Schwerelosigkeit auf das Fenster zu, und bevor ich es erreicht hatte, fing ich mich ab … mit einem Arm, mit einer Hand. Mir stockte der Atem.
Atem?
Ich blickte an mir hinunter. Ich war kein Aktenkoffer, sondern hatte einen Körper, und ich war nackt.
Verdammt noch mal, dachte ich. Ist das etwa die Erde?


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